Hartwig Reinboth Menschen und Situationen


Bilder von Edith Oellers im Lehrerzimmer

Die Arbeiten von Edith Oellers zeigen Menschen in unterschiedlichen Umgebungen und unterschiedlichen Situationen. Allen gemeinsam ist eine Sphäre des Unbestimmbaren, Entrückten. Und das, obwohl die Orte teilweise im Titel benannt und im Bild durchaus identifizierbar sind: "Picadilly" oder "Am Palazzo Spinola" ... Woran liegt das?



Zunächst liegt das an der Art, wie die Menschen im Bild erscheinen: sie sind ruhig, oft in sich gekehrt, vor sich hinträumend oder in "stille Tätigkeit" eingesponnen. Zuweilen fällt der Blick der Bildpersonen auch auf den Betrachter, aber eher beiläufig, zufällig - nicht ausforschend oder auf Kontakt ausgerichtet. Die Personen bleiben bei sich, in ihrer Alltäglichkeit, in ihrer eigenen Sphäre. Und so ist es auch mit den Orten. Es sind zwar bestimmbare Umgebungen, der Bildraum ist auch sozusagen betretbar, aber das Gefühl, das die Orte auslösen, entspricht ungefähr dem von Urlaubsorten in der späten Nachsaison: sie verschließen sich eher. Man kann sie zwar besuchen, aber sie ziehen sich zurück in eine etwas geheimnisvolle Aura, die einerseits ganz alltäglich, aber andererseits doch irgendwie unergründlich ist.


Diese Wirkung wird erreicht durch einen freien, souveränen Umgang mit den malerischen und bildnerischen Mitteln: mit Schärfe und Unschärfe, Nähe und Distanz, farblich pointierter Akzentuierung und ruhiger Ausdehnung von Farbflächen. Das Bildgefüge ist jedes Mal ein konsistenter Organismus, der alle verwendeten Farben und Farbtöne, alle möglichen Arten, Farbe aufzutragen und alle möglichen Objekte und Objektpositionen in eine gemeinsame Bildsphäre einbindet. Wenn man dann eingehender hinschaut, ist man erstaunt, wie heterogen die Malweise im einzelnen sein kann: geschlossene Malflächen gegenüber durchscheinenden Lasuren, porös aufgetragene Farbschleier gegenüber flüssigem Farbauftrag, zufällig wirkende Tupfer und Flecke neben präziser Ausführung von Details. Es ist eben so, dass alle Partien des Bildes genau die malerische Behandlung bekommen, die sie brauchen, um den ihnen zugedachten inhaltlichen und ästhetischen Stellenwert im Bildorganismus einnehmen zu können. Mit größter Sicherheit wird diese malerische Variationsbreite eingesetzt, um ein Wahrnehmungsfeld zu eröffnen, das immer aufs neue den Blick des Betrachters anzieht und beschäftigt.

Auch inhaltlich, also auf Bildobjekte und Bildpersonen bezogen, erschöpfen sich die Bilder nicht. Weil die Bildpersonen eigentlich nichts tun, führt ihr Dasein im Bild nicht auf einen bestimmten Punkt hin. Sie wirken der Zeit entrückt und nehmen den Betrachter mit hinein in diese entrückte Sphäre, ohne sich näher mitzuteilen oder Erklärungen abzugeben. Das hat etwas leicht Melancholisches (dem im Bild ein Bezug der Farben zu einem übergreifenden, silbrig schimmernden Grauton entspricht), zugleich bringt es etwas "Ideales" ins Spiel, das schwer zu erklären ist. Vielleicht kann man es am ehesten so erläutern: Wenn man z.B. an einem schönen Café vorbeischlendert und die Menschen beieinander sitzen und miteinander sprechen sieht, hat man den Eindruck einer "idealen" menschlichen Situation: friedliche Ruhe, Kommunikation, Behaglichkeit. Setzt man sich dann selbst in das Café, weil man gern Anteil an dieser schönen Daseinsform haben möchte, muss man sofort Abstriche machen: plötzlich hört man konkrete Gesprächsfetzen vom Nachbartisch, die man vielleicht banal oder in anderer Weise unbefriedigend findet, man sieht Menschen, die sich ungeschickt gekleidet oder frisiert haben, oder sie wirken gar nicht so entspannt, sondern eher ruhelos und unzufrieden. Die zuvor aus der Distanz verspürte "Idealität" zerfällt, und man muss sich mit dem zufrieden geben, was nunmal gegeben ist. Die Bilder von Edith Oellers halten uns in einer Distanz, die den Situationen ihre "Idealität" bewahren hilft (bei aller Durchschnittlichkeit der im Bild gezeigten Personen und Dinge).


Edith Oellers hat an der Düsseldorfer Kunstakademie Malerei studiert und seither in einem konsequent und stetig vorangetriebenen Prozess ihre malerischen Mittel und ihre Motivwelt entwickelt. Als Studienfreundin aus Düsseldorfer Tagen hat sie mir und uns ihre Bilder für ein Jahr ausgeliehen. Sie sagt: "Da können sich die Kollegen ja mal mit den Gedanken in den Bildern verlieren.



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Thomas Brandt Rede zur Eröffnung der Ausstellung mit Malereien von Edith Oellers

im
Buch- und Kunstkabinett Konrad Mönter in Meerbusch-Osterath
Donnerstag, den 28. April 2011

Ein unfertiges Bild darf ich sehen. Gleich zu Beginn. In Edith Oellers` Reisholzer Atelier. Eine Reihe von Frauen kommt auf mich zu, Frauen aus unterschiedlichen Gegenden der Erde. Die sich auf einer alten, gewachsenen Großstadtstrasse begegnen könnten, wie ich sie im Hintergrund der Frauen entdecke. Mit den kahlen, gestutzten, knorrigen Köpfen alter Platanen am Rande. In Belgien mag es sein, tippe ich. Und habe Recht. Von vielen Brüchen wechselnder Zeitläufte ist solch eine Strassenansicht geprägt. Und einer Unterströmung ehemaliger architektonischer Herrlichkeit. Einheimische und Zugereiste könnten die Frauen sein, Flüchtlinge, Asylsuchende, Studierende, Gastarbeiterinnen. Das normale Miteinander und Durcheinander einer multikulturellen Gesellschaft.
Normal wäre ein Vorübergehen, eine flüchtige Begegnung. Diese Frauen gehen aber auf mich zu, in einer Art Reihe. Als ob alle vom gleichen Appell beseelt wären. „Lange habe ich an dem Rhythmus der Füße gearbeitet“, sagt die Malerin, „bis sich eine Art Tänzchen entwickelte.“ Denn dies ist es geworden. Kein Marschieren, wie auf einem sozialistischen Propagandabild, das die fröhliche Solidarität der Massen beschwört und bildlich frech behauptet. „Vielleicht kennst Du das langgestreckte Querformat des Italieners Felipe Pelliza da Volpedo“, gibt mir Edith Oellers zu denken und ruft das eindringliche Bild mutig voranschreitender Männer in mir hervor. Ja, ich kenne es. Männer des Volkes, die aufbegehren, die gemeinsam beginnen, ihre Rechte einzufordern – ein Bild aus dem späten neunzehnten Jahrhundert. Keine Demonstration im heutigen Sinn, sondern das Heraustreten einer Gruppe aus der Passivität, aus der Erniedrigung und Entrechtung. Die Geburt von Selbstbewußtsein, eines gemeinsamen Gefühls von Würde.
„Ja, schon,“, möchte ich einwenden, „ich begreife, was Dir Anstoß für Deine Bildidee gewesen ist , aber bei Dir tun sich keine Frauen zusammen. Sie ziehen nicht im gemeinsamen Willen voran, um ihre Rechte einzufordern.“ Es ist mehr eine Schicksalsgemeinschaft, die das Gehen der Frauen parallelisiert und vereint. Denn schaut man genau hin, so sieht man, dass die gezeigte Realität nicht homogen ist. Edith Oellers illusioniert für uns kein Ereignis. Sie fügt vielmehr Bildteile zu einem gedanklichen, nicht körperlichen und räumlichen Zusammenhang.
Nichts scheint ihr ferner zu liegen, so scheint mir, als Pathosformeln. Das von ihr geschilderte Leben, ob in diesem oder in anderen Bildern, kommt ohne jegliches Pathos aus. Nicht der außergewöhnliche Moment ist ihr Thema, das Herausgehobensein aus dem Alltag, die Verzückung, die Emphase, der Triumph. Edith Oellers' Menschen finden ihre Würde im Alltäglichen, im Normalen. Soweit sie auch gereist sein mag, wo sie auch Menschen begegnet ist und diese als Motive für ihre Bilder gewählt hat. Nie verfällt sie in die Faszination des Spektakulären, des Exotischen. Immer sind es Mit-Menschen, versunken in der Relativität der Alltäglichkeit ihres Tuns, uns nah, uns verwandt. In diesem Sinn sind die dargestellten Frauen einander nah, und nicht, weil sie wirklich in einer Reihe gehen. Sie sind sich nah in ihrer Existenz, in ihren Erfahrungen, Bedürfnissen und Wünschen.
Hat man mehrere Bilder der Malerin betrachtet, so fällt auf, wie unaufdringlich die Menschen immer wieder dargestellt sind, wie sehr ihre Präsenz, ihr Handeln aufgeht im weitaus größer geschilderten Umraum. „Nicht so wichtig genommen“ wirken sie alle. Als Einzelne nicht so wichtig genommen, dabei aber mit großer Andacht, Rücksicht und Fürsorge gestaltet.
Als heilsam empfinde ich die stille Botschaft, die für ein menschliches Miteinander von dieser Bildwelt, von dieser Kunst, ausgeht. Eine Botschaft gegen den common sense der Zeitläufte, der jeden Einzelnen schon als Kind zum kleinen Herrscher macht, uneinsichtig für den Wert des Selbstverzichts für ein funktionierendes Gemeinwesen. Wenig vertraut aber auch mit dem Gedanken, dass jedem, wie er auch sein mag, eine natürliche Würde zukommt, die Achtung gebietet. Diese Achtung vor der Würde eines jeden Mitmenschen, ohne Ansicht seiner Leistungen, ist es, was ich in den Werken der Malerin immer wieder formuliert sehe. Umso verständlicher, dass sie schon mehrfach gebeten wurde, Bildwerke für kirchliche Zusammenhänge zu gestalten.
Wie die biblischen Geschichten voll sind von Menschen, die zweifeln, die vom guten Weg abkommen, die fehlen, den Glauben verlieren und sündigen, so ist Edith Oellers von Kindesbeinen an voller Geschichten über Menschen wie Du und ich, die ihr eine Flut von Bildern erzeugen. In der Grundschule gar mahnte man an, sie habe zuviel Geschichten im Kopf, und könne deshalb nicht pflichtgetreu dem Unterricht folgen. Gelesenes und Gesehenes nähren die Bildgeburten in ihrem Kopf. „Mit den Augen in fremden Welten spazieren gehen“, nennt die Malerin den Hauptgrund für ihre Lust am Reisen. „Ich muß mir etwas ausmalen dürfen, um malen zu können“, fährt sie fort. Reisen kann sie jedoch nicht nur in fremde Länder, sondern auch in die Vergangenheit. Und so ist ihr der große Bilderschatz vertraut, an dessen Herstellung Künstlerinnen und Künstler Jahrhunderte lang vor ihr gearbeitet haben, an der Herausbildung sinnfälliger Motivkomplexe. Wie wir es eben beim Bild von Volpedo gesehen haben. „Für mich ist solch ein Bild wie ein Guckloch in eine nicht mehr existente Welt“, sagt Edith Oellers dazu.
Um über Gesehenes jederzeit verfügen zu können, bedient sich die Künstlerin der Fotografie. Und hat sich mit der Zeit ein umfassendes Bilderrepertoire, ein lebendiges persönliches Bilderarchiv aufgebaut. Denn es beinhaltet nur Aufnahmen von Menschen, Räumen und Dingen, die die Künstlerin mit eigenen Augen gesehen und erlebt hat. Ihre Fotografien sind jedoch nur Rohmaterial für ihre Tafelbilder, gewinnen nie selbst den Charakter autonomer Werke. Sie entstehen im Hinblick auf Malerei, als eine Art Zitatbaukasten. Neben der Fotografie ist das langjährig kontinuierlich betriebene Aktzeichnen eine weitere vorbereitende Übung für die Malerei, eine Übung, um Körpergefühl einzuüben. Denn Edith Oellers bedient sich zwar der Fotografie als Einstieg in die Darstellung von Personen – auch um sich immer wieder an Alltags-Realität zu orientieren und nicht in persönliche Darstellungstopoi abzugleiten – sie meidet aber jeglichen Schnappschußeffekt. Und so überformt sie die im Moment verhaftete Darstellung der Figuren in der fotografischen Vorlage, um eine Qualität des „länger Dauernden“ herauszuarbeiten. Immer wieder erlebt sie ihr künstlerisches Tun als ein Durchdringen des äußeren Anscheins hindurch auf eine allgemeingültige Realität, aber auch hindurch auf Malerei selbst. „Meine Malerei ist ein Prozess, ein Prozess des Verwandelns des Gesehenen und Fotografierten in Malerei selbst.“, formuliert die Malerin, „Und dabei spielt Sorgfalt eine große Rolle. ...
... Ungern male ich übrigens nach Fotos von Menschen, die ich kenne. Ich brauche Leute, die wandelbar sind. Mit dem Abbild vertrauter Personen könnte ich nie so frei umgehen, um sie in einen Kontext von Malerei einbetten zu können. Von ihnen kann ich nur Portraits anfertigen. Denn hier entwickele ich das Umfeld aus der Darstellung der Individualität des Dargestellten heraus.“
Edith Oellers' Bilder erzählen von China und Japan, Afrika und Italien. Von Orten, wo sie selbst sein durfte. Von Menschen, denen sie persönlich begegnen konnte. „In meinem Inneren trocknen die Geschichten ohne neue Bilder aus.“, erzählt sie anschaulich, „Ich muß immer wieder neu und anders sehen, wie andere Menschen leben, muß vor allem beobachten, was sie mit Dingen tun. Denn mich interessiert besonders, was man „Kram“ nennen könnte, was die alltägliche Dingumgebung der Menschen ausmacht. Und in welchem Verhältnis dieser „Kram“ zum Menschen steht. Über den „Kram“ erfährt man viel vom Menschen.“
Und so treten neben die Darstellung des Menschen der Raum und vor allem die Dinge, denn Edith Oellers' Bilder sind assoziativ zusammengefügt, ohne ein homogenes Ganzes bilden zu wollen. Als ob sie der Einheit der Darstellung mißtraut, ja sie eher für unmöglich hält, umgeht sie die vollkommene Einbettung ihrer Figuren in den Umraum.
Raumfragmente, Figurenzitate und Dingmotive sind nur in der Realität des Bildes vereint. Sie sind „in Beziehung gesetzt“, doch nicht illusionierend „im Zusammenhang“ dargestellt. So wachsen die Bilder langsam im Prozess der Malerei. Motive, die gefallen, werden erprobt, jedoch wieder getilgt, wenn sie, wie die Malerin sagt, im Bildzusammenhang „nicht funktionieren“. „Einmal habe ich mich längere Zeit mit der Bluse einer Frau gequält, kann man fast sagen. Sie wollte und wollte nicht ins Bild passen. Bis ich auf die Idee kam, eine meiner Töchter zu bitten, für mich in gleicher Weise wie die Bildfigur mit einer anderen Bluse Modell für ein Foto zu stehen. Und siehe da, es klappte. Die Bluse ist da und bereichert nun endlich das gesamte Bildgeschehen – nur die Tochter ist weg, denn sie war ja unwichtig.“
In ihren Brüchen und Perspektivsprüngen scheint mir die Modernität dieser Malerei zu liegen. Immer wieder muß ich in diesem Zusammenhang an Eduard Manets „Frühstück im Grünen“ denken, wo angezogene Männer und nackte Frauen im Bois de Boulogne zu lagern scheinen, es aber im Bild nicht wirklich tun. Gemalt ist nur eine gewagte Vorstellung, geschildert keine wirkliche Genreszene.
Um den Zauber der Illusion zu brechen, setzt Edith Oellers neben den Bruchlinien im Dargestellten auf die Kraft der Malerei selbst. Weit spannt sie den Bogen zwischen einer Feinmalerei, die mit großer Sorgfalt die fast magische Präsenz von Dingen, von „Kram“, evoziert, bis zur gegenstandslosen freien Entfaltung der malerischen Mittel selbst. Bei aller Schilderung sind ihre Bilder immer auch ein Stück autonomer Malerei.
Viele der heute hier zu sehenden Bilder zeigen die Bedeutung von „Alltagskram“ in Edith Vorstellungs- und Bildwelt. „Dinge können Leute ersetzen.“, reflektiert die Malerin ihre Erfahrungen. „Wenn ich sie mit großer Sorgfalt darstelle, gewinnen sie an Präsenz und stechen fast aus den Bildern heraus.“ Am Ding entdeckt die den Wert des Einfachen. „Was heißt schon „kostbar“.“, fragt sie sich. „Ein Ding mag als kostbar gelten, weil man einen hohen Preis dafür zahlen muß. Doch im Geschehen des Alltags verliert es diese Kostbarkeit, da sein Gebrauchswert minimal ist. Das von uns gering Geschätzte, leicht Übersehene, mag dagegen im alltäglichen Lebensvollzug eine zentrale Stellung erhalten.
Und damit auch eine Schönheit. Z.B. kommt einem einfachen Plastikstuhl in der Dritten Welt ein hoher Wert zu. Oder einer einfachen Plastikflasche, die bei uns nur ein Wegwerfartikel ist“, erläutert mir die Künstlerin. „Und diese Schönheit durch Malerei erlebbar zu machen, ist für mich eine große Herausforderung.“
Letztendlich versucht die Malerin ihre Bilder „zwischen den Polen des Greifbaren und des Ungreifbaren aufzuspannen“, wie sie es selbst formuliert. Was sie mit den Räumen, Menschen und Dingen auf der einen Seite und mit all ihrer Malerei auf der anderen Seite zu fassen sucht, ist doch letztendlich das Rätselhafte unserer Existenz.
Und dem können Sie sich nun, meine sehr verehrten Damen und Herren, betrachtend nähern. Wozu ich Ihnen viel Freude wünsche und mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit bedanke.